Humboldt-Universität zu Berlin - Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie

Nachruf Dr. Hilmar Schäfer (1977- 2023)

 

Prof. Dr. Hilmar Schäfer | Abb. privat

 

Hilmar Schäfer ist im Mai 2023 einer langjährigen, schweren Krebserkrankung erlegen. Mit gerade 45 Jahren wurde er aus einem beruflich und persönlich erfüllten Leben gerissen. Er lässt in der Soziologie, an der Universität und für alle, die ihm kollegial oder freundschaftlich verbunden waren, eine Lücke, die sich nicht schließen lassen wird. Das Mitgefühl ist insbesondere bei seinem Ehemann Thomas und bei seiner Familie.

 

Ich selbst habe Hilmar Schäfer 2006 kennen und schnell schätzen gelernt, als er als wissenschaftlicher Mitarbeit und Doktorand an meinem Lehrstuhl für Kultursoziologie an der Universität Konstanz seine akademische Laufbahn begann, und habe seitdem kontinuierlich mit ihm zusammengearbeitet. Von allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, denen ich seitdem verbunden war, war dies die längste und intensivste Kooperation. Hilmar – 1977 in Ahrensburg bei Hamburg geboren und aufgewachsen – studierte den interdisziplinären Studiengang der Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg, eine Studienzeit, die ihn nachhaltig geprägt hat: sowohl in seinem Interesse an der Kulturtheorie – mit den Arbeiten von Pierre Bourdieu und Michel Foucault ist er während seines Studiums schon vertraut gemacht worden, als diese anderswo noch als Exoten galten – als auch in seinem Interesse an der materialen Kultursoziologie. In Lüneburg pflegte man die Zusammenarbeit mit dem Kunstfeld, und die kultursoziologischen Exkursionen zur Kasseler Documenta haben Hilmars Blick auf die Praxis der Kunst nachhaltig beeinflusst – später sollte er als Dozent in der eigenen Lehre selbst diese Exkursionen nach Kassel fortsetzen. Sowohl für die Theorie als auch für die kulturelle und künstlerische Praxis hatte sich so nicht nur ein Interesse, sondern auch eine Leidenschaft ausgebildet, die bis zu seinem Tod angehalten hat.

 

Als ich selber als sehr junger Professor 2006 nach Konstanz berufen wurde, bildeten Hilmar Schäfer und Sophia Prinz dort mein erstes Team. Die für alle von uns neue Aufgabe am neuen Ort haben wir gemeinsam in Angriff genommen. Und diesen Zauber des Beginns am Bodensee Mitte der Nullerjahre werde ich immer mit Hilmar verbinden. Konstanz war zu dieser Zeit mit dem gerade gegründeten Exzellenzcluster ein intellektuell auf- und anregender Ort der interdisziplinären Kulturwissenschaften; es war auch ein durchaus herausfordernder Ort – zumal für drei Greenhorns aus dem Norden (ich war selbst aus Hamburg nach Konstanz gewechselt). Wir haben die Aufgabe aber, im Rückblick gesehen, überraschend gut gemeistert – Hilmar war dabei immer der ruhende Pool, die Integrationsinstanz, von geradezu entwaffnender Freundlichkeit und Ausgeglichenheit, von nicht enden wollender Geduld und Verlässlichkeit. Immer gut organisiert, immer kommunikativ aufgeschlossen nach außen (und so manche Eigentümlichkeit seines etwas introvertierten Chefs ausgleichend) – so kannte ich ihn. Und er war auch von einer intellektuellen Offenheit, Reflektiertheit und Differenziertheit, wie sie mir sehr entgegenkam und die vorbildlich war – das merkte man schnell in unseren Theoriekolloquien, bis ans Ende der 2010er Jahre. Immer klug und abgewogen, neugierig auf Neues und Ungewöhnliches, fair in der Auseinandersetzung, niemals dogmatisch oder gar verletzend – das zeichnete ihn aus.

 

Als es mich 2010 von Konstanz an die Europa-Universität Viadrina nach Frankfurt/ Oder und damit in die Nähe von Berlin zog, war es keine Frage, dass Hilmar ebenfalls von den äußersten Süden in den fernen Osten wechselte und seine privaten Zelte in Berlin aufschlug. An der Viadrina hat er bis 2020 kontinuierlich unterrichtet und große Beliebtheit bei den Studierenden gewonnen, die seine engagierten Seminare zur Sozial- und Kulturtheorie und materialen Kultursoziologie schätzten. Hier hat er sich auch über seine Sozialisation in den Kulturwissenschaften hinaus immer mehr in die soziologische Theorie klassischer Art eingearbeitet. Und hier hat er 2012 seine Dissertation zum Thema Praxistheorie fertiggestellt, erschienen 2013 im Velbrück Verlag unter dem Titel „Die Instabilität der Praxis“. Dies ist eine sehr grundsätzliche, seitdem vielzitierte Arbeit, die vergleichend Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Judith Butler und Bruno Latour als praxistheoretische Entwürfe gegenüberstellt. Die unterschiedlichen Verständnisse von Wiederholung und Wandel stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Überhaupt – die Praxistheorie. Sie hat Hilmar fortlaufend – in so undogmatischer Weise, wie es ihr angemessen ist – kontinuierlich beschäftigt, dazu hat er neben seiner Dissertation auch – neben vielen anderen Bänden auf seiner Literaturliste - einen Sammelband „Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm“ herausgegeben, und zwar einen Band, der tatsächlich gelesen wird -, und er hat sich nachhaltig im internationalen Netzwerk zur Praxistheorie engagiert, das von der Universität Lancaster initiiert wurde. Der praxistheoretischen Diskussion hat er damit wichtige und bleibende Impulse gegeben. In seiner Postdoc-Zeit hat sich Hilmar ohnehin breit vernetzt, in der DGS, vor allem in der Sektion Kultursoziologie, in deren Vorstand er einige Jahre saß und dessen Vorsitzender er für zwei Jahre auch war. Spätestens seitdem kannten und schätzten ihn viele in der Soziologie, unter den Nachwuchswissenschaftlern und Professorinnen. Forschungsaufenthalte im In- und Ausland schlossen sich an. Parallel entwickelte Hilmar sein Habilitationsprojekt, auch im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekt zum Thema ‚Architektur und Authentizität‘. In seiner Arbeit ging es um die diskursiven Aushandlungsprozess für Bauten und Objekte des UNESCO-Weltkulturerbes – eine Arbeit, die eine Reihe von Feldforschungen an verschiedenen Orten mit sich brachte. Nach der Kulturtheorie also eine Forschung, die mitten in die Praxis der Kultur zielt, in die praktische Aushandlung dessen, was Gesellschaft überhaupt unter Kultur versteht – und als solche ‚auszeichnet‘. Damit konnte Hilmar mitten an aktuelle Diskussionen zum Thema Bewertungssoziologie und auch zur Bereicherungsökonomie (Boltanski/ Esquerre) anschließen.

 

Leider konnten diese Forschungen nicht mehr zu Ende geführt werden. Ende 2020 kam die erste Krebsdiagnose. Kurz vorher sah es freilich noch nach einem gemeinsamen (dritten) Neuanfang aus. Als ich Anfang 2020 von Frankfurt/ Oder an die Humboldt-Universität wechselte, war Hilmar zwar dem Status des akademischen Mitarbeiters längst entwachsen – aber es ergab sich die Gelegenheit, dass er – mit seiner großen Lehrerfahrung - die Gastprofessur/ Vertretungsprofessur besetzen konnte, die im Rahmen des Leibniz-Preises an meinem Lehrstuhl am Institut für Sozialwissenschaften eingerichtet wurde. Tatsächlich war das für ihn eine ideale Position: ein Lehrprogamm eines Professors in Berlin anzubieten, um sich von dort mit bald fertiggestellter Habilitation auf Professuren zu bewerben. Dass er bald einen Ruf erhalten hätte – so beeindruckend mittlerweile seine Publikationsliste, so souverän seine Arbeitsweise und so gewinnend seine persönliche Art war -, darüber hatte ich keinen Zweifel. Wir alle haben ihn als kommenden Professor gesehen, der bald seine 20 Jahre Forschung und Lehre als Lehrstuhlinhaber vor sich haben wird und der dies mit jenem Engagement und jener Leidenschaft betreiben wird, wie wir es von ihm gewohnt waren.

 

Es ist tragisch, dass Hilmar Schäfers Leben und seine Karriere so jäh beendet wurden. Nach der ersten Operation sah es noch gut aus, ja alles erschien wie früher – aber der Krebs ließ sich nicht aufhalten. Der Tod eines Menschen ist immer traurig für Angehörige und Freunde. Aber wenn er so vergleichsweise jung erfolgt und so viele nicht realisierte Möglichkeiten aufscheinen, bricht es einem das Herz. Ich werde Hilmar nicht vergessen, und wenn man ihn kannte, kann man ihn nicht vergessen. Er bleibt mir in Erinnerung, auch als Beispiel für einen Menschen, der so viele Qualitäten – innere Balance, Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt, Sorgfalt, Klugheit und Zugewandtheit gegenüber dem Anderen - in sich vereinigt hat wie kaum jemand sonst. Und darin hat er eine Spur hinterlassen.

 

 

Prof. Dr. Andreas Reckwitz