Forschung
Forschungsprofil
Der Arbeitsbereich Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie widmet sich der Analyse spätmoderner Gesellschaft und Kultur. Dabei werden Spezialuntersuchungen einzelner gesellschaftlicher Bereiche – von der Organisation bis zur Erziehung, von der Bewegungskultur bis zur Politik, von der Kunst bis zur Ökologie – mit dem übergreifenden Interesse an einer Theorie spätmoderner Gesellschaft verknüpft. Diese versteht sich als Bestandteil einer allgemeinen Theorie der Moderne.
Die soziologische Perspektive des Arbeitsbereichs setzt auf eine interdisziplinäre Kooperation mit anderen sozial- und insbesondere kulturwissenschaftlichen Vorgehensweisen. Zudem werden gegenwärtige und historische Ausformungen der Moderne zueinander in Beziehung gesetzt. Sozialtheoretisch ist der Arbeitsbereich prinzipiell pluralistisch ausgerichtet. Ein Schwerpunkt liegt im Feld der Praxistheorien sowie anderer kulturtheoretischer Ansätze. Methodisch kommt in den empirischen Forschungen schwerpunktmäßig qualitative Methoden zum Einsatz. Der Arbeitsbereich ist auch um die Wissenschaftsvermittlung für eine breitere Öffentlichkeit bemüht. (Abb.: Matthias Heyde | CC BY-SA)
Leibniz-Forschungsschwerpunkt "Gesellschaftsnarrative"
Im Rahmen des Leibniz-Preises an Prof. Andreas Reckwitz wird am Arbeitsbereich der besondere Forschungsschwerpunkt „Gesellschaftsnarrative“ verfolgt: die Analyse von Narrativen über die gesellschaftliche Entwicklung in der Gesellschaft. Gesellschaftsnarrative können sich dabei auf die Vergangenheit und auf die Zukunft beziehen. Solche Erzählmuster bilden sich in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen: Sie haben ihren Ort in den Humanwissenschaften ebenso wie in der Politik, der Ökonomie, den Technik- und Klimawissenschaften, in der Literatur und im Film. Von hier aus strukturieren Gesellschaftsnarrative die institutionellen Ordnungen, intellektuell oder ästhetisch können sie aber auch darüber hinausgehen und etwa utopische oder dystopische Szenarien oder umfassende Geschichtsphilosophien entwerfen.
Der Zukunftsbezug erlangte mit der Entstehung der Moderne im 18. Jahrhundert eine besondere Radikalität, indem der Maßstab des ‚Fortschritts‘ zentral wird. Wir scheinen zu Beginn des 21. Jahrhunderts an einem Punkt angekommen, an dem solche Fortschrittserzählungen – sowohl im Blick zurück als auch im Blick nach vorn - brüchig geworden sind, so dass die Frage nach dem Gesellschaftsnarrativ aktuell von besonderem Interesse ist.
Aktuelle Forschung
Prof. Dr. Andreas Reckwitz
»Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Gesellschaftsnarrative arbeite ich aktuell an dem Buchprojekt Verlust. Die andere Seite des Fortschritts. Es zielt auf eine Soziologie des Verlusts als Beitrag zur Theorie der Moderne ab. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die moderne Gesellschaft zunächst auf einer ‚Verlustvergessenheit‘ beruht: die positiven Zukunfts-, Fortschritts- und Innovationserwartungen prägen die soziale Praxis. Tatsächlich potenziert die moderne Gesellschaft jedoch systematisch Verlusterfahrungen, und sie bringt diverse Formen der Verlustbearbeitung (doing loss) – von der Traumatisierung über die Trauer bis zur Nostalgie, von der Prävention über die Resilienz bis zur Politisierung – hervor, aus denen sich komplexe Verlustdynamiken entwickeln. Der Spätmoderne kommt für die Verlustsensibilisierung – von den Modernisierungsverlierern über den Klimawandel bis zum individuellen Scheitern – ein besonderer Ort zu.
Daneben verfolge ich den Fragekomplex der 'Gesellschaftsnarrative' insgesamt (Zukunft, Fortschritt, Geschichtstheorie), und führe die Themen aus dem Kontext von Die Gesellschaft der Singularitäten weiter (kulturell-kognitiver Kapitalismus, neue Mittelklasse, Transformation des Politischen, Emotionskultur und Kultur des Selbst).
Ein weiteres Interesse gilt Formaten der Wissenschaftsvermittlung (so im Podcast Andreas Reckwitz im Gespräch).«
»Die rauen gesellschaftlichen Debatten sind ein Zeichen dafür, dass die Selbstbeschreibungen und Ordnungsvorstellungen der westlichen Gesellschaften wieder ins Rutschen geraten. Ich betrachte diesen Vorgang aus zwei Perspektiven: Auf der einen Seite untersuche ich die den Konfliktdynamiken und -strukturen spätmoderner Gesellschaften. Angesichts der intensiven Konflikte um Migration, Gender und Klimawandel sollten wir nicht eine Spaltung der Gesellschaft herbeireden oder einer Vision sozialer Harmonie verfallen, sondern demokratische Konflikte besser verstehen. Dazu leiste ich mit einer empirisch fundierten Theorie demokratischer Konflikte einen Beitrag.
Auf der anderen analysiere ich dann, welche Ordnungs- und Steuerungsvorstellungen in diesen Konflikten um Deutungshoheit ringen. In der Vergangenheit habe ich mich etwa mit Transparenz, Souveränität, New Public Management und kybernetischen System- und Netzwerk-Ideen wie Flexibilität, Selbstorganisation oder Resilienz beschäftigt. Ich systematisiere, historisiere und vergleiche diese sehr unterschiedlichen Vorstellungen, sodass ein kritisches Tableau aktueller Regierungsrationalitäten entsteht.
Einen besonderen Schwerpunkt der empirischen Arbeit auf beiden Feldern bilden die ökologischen Konflikte unserer Zeit. Bei diesen Konflikten geht es ums Ganze: um die Institutionenordnung, die privilegierten sozialen Gruppen und die Konfliktkultur der Zukunft. Als Forschungsgruppenleiter erkunde ich gemeinsam mit einem Team, wie in den ökologischen Konflikten die Konturen der kommenden Gesellschaft ausgehandelt werden. Um mehr zu diesem Projekt zu erfahren, lesen Sie gerne dieses Interview.«
»Nach meiner zurückliegenden Forschung über die Differenzen, Beziehungsmodi und Homologien zwischen den Kollektivsingularen Soziologie und Literatur, die ich im Rahmen meiner Dissertation untersucht habe, interessiere ich mich nun für Gesellschaftsvorstellungen und -bilder, die in methodischer Soziologie als auch in Spontansoziologien aufzufinden sind. Wie schon in meiner Untersuchung von Literatur und Soziologie spielt auch in meinem neuen Forschungsvorhaben das sozial Imaginäre und dessen performative Kraft auf das Soziale eine besondere Rolle. Ziel des Projektes ist es, Gesellschaftsvorstellungen spätmoderner Gesellschaften herauszustellen und zu interpretieren, wofür ich sowohl Fachdiskurse, Alltagswelten wie reflexive Gemeinschaften wie beispielsweise Literatur oder Film betrachte.
Eine weitere Fragestellung, mit der ich mich befasse, ist die einer möglichen writing society debate, bei der die Bedeutung des Schreibens für die Sozialwissenschaften nachgezeichnet und gedeutet werden soll.«
PD Dr. Anja Röcke
»Mein zentrales gegenwärtiges Forschungsthema ist Selbstoptimierung, das ich als Ausdruck eines instrumentellen, auf Steigerung und Entgrenzung zielenden Selbstverhältnisses verstehe. Mein gerade erschienenes Buch zur „Soziologie der Selbstoptimierung“ (Suhrkamp 2021) liefert eine sozialtheoretisch fundierte Definition dieses Phänomens, diskutiert seine Historizität und bestimmt die Faktoren, die Selbstoptimierung als ebenso zentrales wie ambivalentes Kultur- und Sozialphänomen der spätmodernen Gesellschaft ausmachen.
Ausgehend davon möchte ich nun selbstoptimierende Praktiken empirisch und international-vergleichend untersuchen. Ein erstes Untersuchungsfeld stellt das sog. Biohacking dar. Als Ausdruck einer „Do-it-yourself-Biologie“ kommen im Biohacking gegenwärtige gesellschaftliche Tendenzen wie Digitalisierung und (bio)technologischer Wandel, die Versprechungen der Neurowissenschaften und die wachsende Ausbreitung von „citizen science“ und „open-source“ Aktivismus in aller Deutlichkeit zur Geltung. Unter besonderer Berücksichtigung der Gender-Thematik erforscht das Projekt die Bedeutungen, Konsequenzen und Widersprüchlichkeiten des Biohackings und liefert damit einen Beitrag zur Analyse gegenwärtiger technisch vermittelter Subjektivierungsweisen und ihrer Verbindung mit makrosozialen Prozessen.
Meine weiteren Interessens- und Forschungsfelder sind Lebensführung, Mittelschichten, Historische Soziologie, Politische Soziologie und partizipative Demokratie.
Ich bin Mitglied im internationalen und interdisziplinären akademischen Netzwerk "Popular Psychology, Self-Help Culture and the Happiness Industry".«
Marie Rosenkranz
»Ich interessiere mich in meiner Forschung für die Zusammenhänge von Kunst und Politik, die sich zahlreichen Verschiebungen ausgesetzt sehen. Dazu gehören historische Neuerungen wie die zunehmende Moralisierung der Kunstrezeption und eine Demokratisierung der Kunstkritik durch social media ebenso wie die weniger neuen, aber an Dynamik gewinnenden kritischen Debatten um Sexismus oder das koloniale Erbe von Kunstinstitutionen. Soziale Bewegungen wie #metoo und Black Lives Matter gehören zu den Akteuren, die die Kunstwelt verändern, doch auch Nationalismus und die unsichere Zukunft der Europäischen Union stellen grundlegende Herausforderungen an die Kunst.
Mein Dissertationsprojekt widmet sich in diesem sich neu ordnenden Feld des künstlerisch-Politischen einem Teilaspekt: der Seite der Kunstproduktion, also der Frage, was Künstler*innen im Zuge dieser Debatten eigentlich tun. Die Praktiken des künstlerischen Aktivismus bestehen etwa in Bündnisbildungen, sozial engagierten Community-Projekten und bildpolitischen Interventionen. Nicht nur das Künstlerische an diesen Praktiken gilt es zu beschreiben, auch die sich verändernde Künstler*innenrolle steht im Zentrum meines Forschungsinteresses. Meine Untersuchung fokussiert dabei auf die Kunst zum politischen Problem Europa, welches bisher am konkretesten anlässlich des Austritts Großbritanniens aus der EU auch von künstlerischer Seite verhandelt wurde.
Ausgehend von meinem Promotionsprojekt unternehme ich manchmal kleinere Exkurse in benachbarte Themenfelder: Aktivismus in der Architektur, Bildpolitik, politische Inszenierungen und Narrative des Veränderns.«
Fabian Krenz-Dewe
Im Rahmen meiner Forschung interessiere ich mich für die Auswirkungen, welche die ökologischen Krisen (Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Belastung der Atmosphäre, Meere und Böden) Anfang der 2020er Jahre auf die Gesellschaft haben. Unser Planet befindet sich bereits jetzt in einem „no-analogue state“, einem ökologisch in der Geschichte der Menschheit unvergleichbaren Zustand und er verändert sich in rapidem Tempo weiter. Sollten sich die Anstrengungen zur Gegensteuerung nicht extrem steigern, wird sich unser Planet schon bald dramatisch von dem unterscheiden, den frühere Generationen kannten.
In meinem Promotionsprojekt beschäftige ich mich mit der Umgangsweise der Gesellschaft mit dieser fundamentalen Bedrohung und nehme dabei eine zeittheoretische Perspektive ein. Im Fokus steht die Frage, welche Formen von Zukunft angesichts der ökologischen Frage aktuell im öffentlichen Diskurs sagbar sind und welche temporalen Dynamiken von diesen ausgehen. Neue Verknüpfungen zu Vergangenheit und Gegenwart tun sich auf, geologische, soziale und ökonomische Zeitskalen treffen aufeinander und zusätzlich besteht das Risiko ökologischer Kipppunkte, deren Auswirkungen unabsehbar sind. Ziel meiner Forschung ist es, die Veränderung, die das gesellschaftliche Zeitregime aktuell durchläuft, zu analysieren und dabei Transformationspfade zu beschreiben, die mögliche weitere Entwicklungen vorzeichnen.
Dr. Dominik Bartmanski
Dominik Bartmanski is a cultural sociologist and social theorist interested in questions of meaning-making. He does research in areas of theory and intellectual history, cultural iconicity, urban sociology, sociology of space (Raumsoziologie), aesthetics, cultural consumption, independent music and art-worlds & subcultures.
PD Dr. Stefan Wellgraf
Meine zurückliegenden Forschungen zu Berliner Hauptschulen umfassen drei im transcript-Verlag erschienene Monografien: Zunächst eine 2012 veröffentlichte Dissertation, in der ich anhand einer Schule im Berliner Stadtteil Wedding Prozesse der „gesellschaftlichen Produktion von Verachtung“ im deutschen Schulsystem nachzeichnete. In der 2018 publizierten Studie "Schule der Gefühle" widmete ich mich daran anschließend, basierend auf Feldforschungen an einer Schule in Berlin-Neukölln, der „emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit“ einer als Bildungsverlierer geltenden Schülerklientel. Die Studie "Ausgrenzungsapparat Schule. Wie unser Bildungssystem soziale Spaltungen verschärft" aus dem Jahr 2021 vertieft einzelne Aspekte aus diesen umfangreichen Feldforschungen und richtet sich an ein größeres Publikum.
Meine aktuellen Forschungen zu rechten Subkulturen in Ostdeutschland führe ich im Rahmen einer Heisenbergstelle sowie durch die Leitung eines BMBF-Projekts zu "Transformationen rechter Gewalt in Krisenzeiten" durch. Zu den Schwerpunkten dieser Forschung gehört unter anderem eine Beschäftigung mit Transformationserfahrungen in Ostdeutschland, eine Untersuchung der Konjunkturen und Erscheinungsformen rechter Gewalt in (Ost-)Deutschland sowie eine Analyse der sozialisatorischen Vorbedingungen von Rassismus, Nationalismus und Autoritarismus. Methodisch basiert die Forschung vor allem auf teilnehmenden Beobachtungen, biografischen Interviews und Archivrecherchen. Eine erste Publikation aus diesem Forschungszusammenhang ist der gemeinsam mit Christine Hentschel bei Spector Books herausgegebene Sammelband "Rechtspopulismen der Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Irritationen".