Humboldt-Universität zu Berlin - Urban Citizenship Covid

Copenhagen Fallstudie

Urban Citizenship in Zeiten der Krise: Kopenhagen - Der Fall obdachloser Migrant*Innen

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In dieser Fallstudie haben wir uns entschieden, uns auf Organisationen zu konzentrieren, die obdachlose Migrant*Innen betreuen. In Kopenhagen werden diese Menschen in den vergangenen Jahren verstärkt ausgegrenzt.

 

  • Die Anzahl der obdachlosen Migrant*Innen ist – im Zuge der Osterweiterung der EU im Jahr 2007 und der Finanzkrise im Jahr 2008 – auf schätzungsweise 2.000 bis 4.000 Menschen angewachsen (in einer Stadt mit 600.000 Einwohner*innen).
  • Der Großteil dieser Bevölkerung besteht aus EU-Bürger*Innen oder Inhaber*Innen von Aufenthaltstiteln in verschiedenen EU-Ländern. Diese Migrant*Innen sind in Dänemark jedoch nicht staatlich registriert und haben daher keine offizielle Registrierungsnummer (sogenannte CPR-Nummern oder Nummern des Det Centrale Personeregister). Die CPR-Karte ist faktisch aber eine nationale Gesundheitskarte, die den Zugang zu einem stark regulierten, digitalisierten und formalisierten System nicht nur der Gesundheitsversorgung, sondern auch der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung im weiteren Sinne gewährt. Die Karte fungiert effektiv als wichtigstes Ausweisdokument im Land. Die CPR-Nummer muss bei vielen Gelegenheiten vorgelegt werden: von der Eröffnung eines Bankkontos über die Beantragung eines öffentlichen Bibliotheksausweises bis hin zum, umstritteneren und möglicherweise illegalen, Zugang zu den öffentlich finanzierten Obdachlosenunterkünften. Die Nummer ist für Ausländer*Innen ohne Arbeitsvertrag und ohne festen Wohnsitz, über den ein Aufenthalt von mindestens einem Monat dokumentiert werden kann, äußerst schwierig zu bekommen.
  • Paradoxe Positionierung: obdachlose Migrant*Innen sind in der Stadt gut sichtbar, zum Beispiel durch das Sammeln von Flaschen als Haupterwerbsquelle, aber sie sind in der politischen Arena sowohl auf städtischer als auch auf nationaler Ebene weitestgehend unsichtbar.
  • Die Anwesenheit dieser Migrant*Innen im Land wird im breiteren EU-Rechtsrahmen widerwillig akzeptiert. Sie fallen in die Grauzone zwischen der EU-Politik zur Freizügigkeit und Arbeitskräftemobilität einerseits und der dänischen Sozialpolitik und Wohlfahrtsverwaltung andererseits.
  • Ihre Anwesenheit wird auch durch die anhaltende Kriminalisierung des Straßenlebens in Kopenhagen prekarisiert, insbesondere durch das Übernachten und Betteln im öffentlichen Raum und die zunehmende Einschränkungen öffentlich finanzierter sozialer Dienste.
  • Abgesehen vom Zugang zur Gesundheitsversorgung in Notfällen und den Anspruch auf das von der Kommune betriebene „Transit-Programm“ (Hilfe bei der Rückkehr in die „Heimatländer“), verlassen sich diese Migrant*Innen auf gemeinnützige Organisationen und Wohltätigkeitsorganisationen, um Zugang zu Ressourcen zu erhalten oder ihre oft latenten Rechte in Anspruch zu nehmen. Die betreffenden Einrichtungen werden hauptsächlich von privaten Stiftungen, durch EU-Mittel und gelegentliche und eher spärliche Beiträge der Kommunen für einzelne Projekte finanziert.

 

Stichprobenverfahren und Datenerhebung

Über 30 Beratungs- und Nachbarschaftsorganisationen für Migrant*innen (MSOs) – meist kleinere Unterorganisationen großer nationaler Wohltätigkeitsorganisationen oder temporäre Projekte – befinden sich hauptsächlich in zwei Stadtteilen von Kopenhagen. Die meisten von ihnen wurden nicht speziell für die Arbeit mit obdachlosen Migrant*Innen eingerichtet, fokussieren heute aber vor allem auf diese Gruppe. Obwohl die meisten Organisationen eine „Don’t ask – don’t tell“-Policy anwenden, haben sie ein gutes Gespür für die Zusammensetzung der Gruppen, mit denen sie arbeiten. In unserem Projekt konzentrierten wir uns hauptsächlich auf die Organisationen, die mit obdachlosen Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten. Wir interviewten Leiter*innen oder leitende Angestellte aus insgesamt zehn MSOs. Darüber hinaus haben wir die Bürgermeister*in für soziale Angelegenheiten in Kopenhagen, eine kommunale Mitarbeiter*in des Transit-Programms, die Direktor*in einer großen privaten Stiftung, die Sozialarbeit mit Randgruppen in Dänemark finanziert, und eine Expert*in für Ehrenarbeit interviewt. Ergänzt wurde dies durch teilnehmende Beobachtungen in einer der MSOs sowie bei Treffen des Migrant Solidarity Networks, einem Netzwerk, das einige der MSOs zum Informationsaustausch und zur emotionalen Unterstützung zusammenbringt. Die Interviewpartner*innen wurden durch gezieltes Sampling rekrutiert, mit einem zusätzlichen Schneeball-Sampling. Die Datenerhebung haben wir zwischen September 2021 und Februar 2022 durchgeführt.

 

Hauptergebnisse

Die Reaktion der MSOs, die mit obdachlosen Migrant*Innen arbeiten, und die Reaktionen der Stadtregierung auf die Pandemie in Kopenhagen waren zweigeteilt.

 

Einerseits:

  • Einige MSOs, insbesondere diejenigen, die niedrigschwellige Dienste anbieten, konzentrierten sich hauptsächlich auf die Bewältigung der staatlichen Beschränkungen (insbesondere social distancing und Beurlaubung für begrenzte Zeiträume für nicht unbedingt erforderliche Arbeitnehmer*innen). Sie versuchten, ihre Arbeitsabläufe an diese Beschränkungen anzupassen.
  • Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer vorübergehenden Abnahme der Klient*innen, setzten sie auf neue Technologien (Telefonberatung und Kontaktpflege, Online-Sprachkurse, etc.), eine Zunahme der persönlichen Fallbetreuung und die Verlagerung von Beratungsgesprächen und Dienstleistungen auf öffentlichen Freiflächen.
  • Individuelle und organisatorische Umstellungen wurden ohne Koordinierung durch eine zentrale Stelle ad hoc entwickelt.
  • Ab dem Zeitpunkt, zu dem Testeinrichtungen, Isolations- und Impfangebote für obdachlose Migrant*Innen geöffnet wurden, wurden die Mitarbeiter*innen der Organisationen entscheidend, um ihren Klient*innen beim Zugang zu helfen. Sie begleiteten diese persönlich vor Ort oder vermittelten Informationen und Abläufe.

 

Anderseits:

  • Eine Minderheit der MSOs verfolgte von Anfang an einen selbstbewussteren Ansatz sowohl bei der Bereitstellung von Diensten und Beratungen, als auch bei der Kontaktaufnahme mit staatlichen Akteuren, insbesondere der Gemeinde.
  • Insbesondere zu Beginn der Pandemie ging dieser Ansatz auf die korrekte Annahme zurück, dass obdachlose Migrant*Innen auf Grund ihres spezifischen Rechtsstatus von vielen Angeboten ausgeschlossen bleiben würden. Bereits früh wurden daher Ersatzleistungen angeboten, wie beispielsweise mobile Tests für Obdachlose.
  • Viele MSOs organisierten sich auch mit Blick auf politische Forderungen für Migrant*Innen und marginalisierte Menschen. Diese richteten sie insbesondere an die Kopenhagener Bürgermeister*in für soziale Angelegenheiten, die die Forderungen dann gegenüber anderen kommunalen Akteuren vertrat und sich für inklusive Maßnahmen mit Blick auf Obdachlose und obdachlose Migrant*innen einsetzte.
  • Die MSO-Aktivist*innen setzten sich, allerdings nur bedingt erfolgreich, auch für Änderungen der nationalen Politiken ein, z. B. wurde vorgeschlagen, informelle Arbeit, die Hauptquelle des Lebensunterhalts von Obdachlosen, gesetzlich anzuerkennen, oder auch Covid-Testeinrichtungen für die Unterbringung nicht registrierter Migrant*Innen zu nutzen. Dabei stützten sich die Akteure sowohl auf ihre politischen Machtressourcen, als auch auf bestehende persönliche Verbindungen zur Bürgermeister*in.
  • Während die oben beschriebenen MSOs die Pandemie in erster Linie als eine weitere Krise im Zuge ihrer langjährigen, krisenhaften Arbeit mit einer zutiefst marginalisierten und vernachlässigten Gruppe betrachtete, sah die zweite Gruppe die Pandemie, vor allem zu Beginn, auch als eine Chance, um das politische Feld zu verändern, und bereits seit langem diskutierte Ansätze in der Sozialen Arbeit endlich durchzusetzen.
  • Insgesamt führten die aus den meist individuellen und über persönliche Netzwerke vermittelten Anpassungen an die Krise zu einem fragmentierter "Flickenteppich" aus temporären Lösungen und Improvisationen. Maßnahmen, die obdachlosen Migrant*Innen zu Gute kamen, gingen vor allem auf Initiativen zurück, die sich breiter an marginalisierte Bevölkerungsgruppen richteten. Meist waren sie mit formalisierten Leistungen, z.B. für Obdachlose verbunden. Die Pandemie führte im Sinne eines Gelegenheitsfensters mit Blick auf obdachlose Migrant*Innen bestenfalls zu einer Art „zufälligen“, aber zu keiner systematischen Stärkung sozialen Teilhabe.

 

Empfehlungen für Politik und Praxis in Kopenhagen

 

Basierend auf unseren Recherchen unterteilen wir unsere Empfehlungen in zwei Kategorien. Die erste befasst sich mit Empfehlungen zur Verbesserung der organisatorischen und institutionellen Landschaft der Dienstleistungserbringung für obdachlose Migrant*Innen. Die zweite listet konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Leistungserbringung auf, auch in Zusammenarbeit mit anderen kommunalen Akteuren.

 

 

A) Institutionen und Organisation:

 

  1. Einrichtung eines Beirats (Advisory Council oder AC)
    Während der Pandemie erwiesen sich regelmäßige Treffen eines Netzwerks lokaler Einrichtungen unter Einbezug der Bürgermeister*in für soziale Angelegenheiten als entscheidend für den Informationsfluss und die Koordination zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und der Gemeinde. Wir empfehlen, dass dieser Prozess des informellen Austauschs und der Kommunikation durch die Einrichtung eines Beirats mit regelmäßigen monatlichen oder zweimonatlichen Treffen institutionalisiert wird. Der Advisory Council würde als Plattform für Vertreter*innen dienen, die vom Forum (unter A2) und der Bürgermeister*in für soziale Angelegenheiten gewählt werden. Dies würde einen zeitnahen und transparenten Informationsaustausch ermöglichen und Gelegenheit für ein kollektives Feedback der Einrichtungen und Organisationen an die Gemeinde bieten. Eine solche Institutionalisierung ist notwendig, um sicherzustellen, dass Praxen der Kooperation unabhängig von personellen und politischen Veränderungen eine Kontinuität erhalten. Ein solches beratendes Gremium könnte auch als Plattform für die Erörterung von Möglichkeiten zur Koordinierung rund um Finanzierungs-/Unterstützungsmechanismen im weiteren Sinne genutzt werden.

  2. Einrichtung eines Forums für Organisationen und Akteure (Forum of Providers)
    Obwohl es mehrere bestehende Netzwerke unter den Organisationen gibt, würde die Dienstleistungslandschaft (sowie die Kommunikation mit der Bürgermeister*in für soziale Angelegenheiten) stark von einem formalen Gremium profitieren, in dem alle Einrichtungen, die Leistungen für Obdachlose in Kopenhagen anbieten, Mitglied sind. Das vorgeschlagene Forum würde in der Lage sein, eine starke kollektive Stimme zu entwickeln. Eine solche gemeinsame Stimme wird vor allem benötigt, um öffentliche Missverständnisse über die Rechte und gelebten Realitäten der Zielgruppe aufzuklären. Darüber hinaus wäre ein solches gemeinsames Forum in der Lage, Verbesserungsvorschläge für die Bereitstellung von Dienstleistungen für die Zielgruppe glaubwürdig zu identifizieren und zu spezifizieren. Dies könnte intern auch für strategische Maßnahmen relevant sein, vor allem aber geht es um die Kommunikation mit Fördereinrichtungen auf diesem Gebiet.

  3. Einrichtung eines Obdachlosenzentrums mit Schwerpunkt Migration als „One-Stop-Shop“
    Unsere Forschung beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie obdachlose Migrant*Innen sich im Alltag Kopenhagens mit Blick auf Ressourcen und Dienstleistungen zurecht finden. Die Mobilität dieser Bevölkerung wurde während der Covid-19-Pandemie noch weiter auf die Probe gestellt. Denn Regeln, Grenzen und Einschränkungen waren ständigen und inkonsistenten Änderungen unterworfen. Das bedeutete, dass sich die Informationen über den Zugang zu Räumen und Unterstützung ständig änderten. Basierend auf den Erfahrungen unserer Forschungspartner in Tel Aviv, wo während der Pandemie mehrere MSOs unter einem Dach untergebracht wurden (und es nach der Pandemie auch bleiben), empfehlen wir einen „One-Stop-Shop“ für diese Zielgruppe. Eine solche Konsolidierung von Diensten und Informationen könnte eine zeit- und ressourceneffizientere und effektivere Koordinierung der alltäglichen Unterstützung von obdachlosen Migrant*Innen ermöglichen.

 
B) Leistungen und Unterstützung:

 

  1. Ausbau mobiler Dienste (Gemeinde und Organisationen)
    Covid-19 hat den Bedarf an mobilen Sozial- und Gesundheitsdiensten für marginalisierte Bevölkerungsgruppen deutlich gemacht. Während zum Beispiel Test- und Impfzentren in verschiedenen Pandemiestadien theoretisch für alle „offen“ waren, benötigten obdachlose Migrant*Innen faktisch Unterstützung für den Zugang zu diesen Diensten oder entschieden sich dafür, überhaupt nicht darauf zuzugreifen – hauptsächlich aus Angst und/oder Misstrauen gegenüber offiziellen Stellen. Stattdessen erwiesen sich räumlich mobile Angebote als wirksames Mittel zur Überbrückung von Versorgungslücken. Als die Angebote für obdachlose und prekär untergebrachte Drogenkonsument*innen ihre Dienstleistungen zu Beginn der Pandemie ausweiteten, folgten andere Programme diesem Beispiel und begannen mit mobilen und flexiblen Angeboten zu arbeiten. Die Integration solcher Praxen in die stärker formalisierten Dienste könnte dazu beitragen, Lücken in der Versorgung zu schließen.

  2. Verstärkte Bereitstellung von psychiatrischen Diensten (Gemeinde und Organisationen)
    Covid-19 hat für obdachlose Migrant*innen zu einem stark erhöhten Bedarf an psychischer Gesundheitsversorgung geführt. MSOs waren überwältigt von den neuen und verschärften Problemen, die in dieser speziellen Bevölkerungsgruppe auftauchten. Im Sinne von Punkt B1 empfehlen wir insbesondere die Einbeziehung mobiler, „streetlevel“ psychologischer Dienste – über die „Notfall“-Versorgung hinaus. Dadurch würden vor allem kleinere Organisationen ohne Expertise in diesem Bereich entlastet.

  3. Ausweitung der "Housing First" Initiativen (Gemeinde und Orgqanisationen)
    Eines der größten Hindernisse für obdachlose, legal anwesende, nicht registrierte Migrant*Innen besteht darin, dass ihnen ohne formal registrierte Langzeitwohnung keine CPR gewährt wird. Während der Covid-19-Pandemie stellten eine Reihe von Hostels und Hotels Zimmer zur Verfügung, die als Experimentierräume für Housing First-Initiativen dienten – eine internationale Bewegung, die sich darauf konzentriert, Obdachlosigkeit zu beenden und Integrationspraktiken zu unterstützen. Die Erfahrungen sind bislang überaus positiv. Eine Fortführung dieser Programme ist daher dringend zu empfehlen.

  4. Gezielte Digitalisierung (Organisationen)
    Eines der prägenden Merkmale des Alltags während der Pandemie war die zunehmende Digitalisierung - von der Fernarbeit bis hin zur Bereitstellung von Dienstleistungen, wie z.B. Telekonsultationen bei Anbietern von Basisgesundheitsdiensten. Die Digitalisierung wurde, wo möglich, auch von Organisationen und Einrichtungen übernommen, sei es in Bezug auf die Bereitstellung von Online-Dänischunterricht oder individuelle soziale Unterstützung. Nach der Pandemie gab es eine schnelle Rückkehr zur Präsenzbetreuung. Während Präsenzberatungen wichtig sind mit Blick auf persönliche Interaktionen und den Aufbau von Vertrauensbeziehungen, ist es bemerkenswert, dass viele Obdachlose in Kopenhagen Zugang zu Telefonen mit Internet haben, sowie über ein gewisses Maß an digitaler Kompetenz verfügen. Es empfiehlt sich daher zu überlegen, welche Angebote weiterhin auch digital bereitgestellt werden könnten. Dabei sollten die Empfehlungen einer kürzlich durchgeführten EU-weiten Studie zur digitalen Inklusion von Obdachlosen von FEANTSA, der einzigen europaweiten NGO, die sich für die Beendigung der Obdachlosigkeit in Europa einsetzt, beachtet werden.

  5. CPR-Ersatzkarte (Organisationen)
    Da es viele Missverständnisse über die Rechte von obdachlosen Migrant*Innen gibt, empfehlen wir dem Forum (A2), die Einführung einer „CPR-Ersatzkarte“ in Betracht zu ziehen. Sie sollte die rechtliche Stellung von obdachlosen Migrant*Innen nach EU-Regelungen klar stellen und schützen. Die Karte könnte beispielsweise in Fällen dienlich sein, in denen Migrant*innen ihren rechtlichen Anspruch nachweisen müssen oder Einrichtungen und Organisationen unsicher sind, welche Leistungen sie Klient*innen anbieten dürfen.

 


 

Contact: Tatiana Fogelman