Leibniz-Projekt
Neue Ungleichheiten, neue Spaltungen? Eine politische Soziologie der Gegenwartsgesellschaft
Projektkoordinator: Prof. Dr. Steffen Mau
Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen: Dr. Thomas Lux, Dr. Linus Westheuser, Julian Heide
Laufzeit: 2021-2028
In der Forschung zu den aktuellen Konflikten in westlichen Gesellschaften dominiert folgende Diagnose: Im Zuge der verschärften materiellen Ungleichheiten haben sich die ökonomischen Verteilungskonflikte in den letzten Dekaden intensiviert. Gleichzeitig sind neue Auseinandersetzungen entstanden, die sich auf Fragen der Anerkennung, der Identität, des territorialen Zugangs und der ökologischen Nachhaltigkeit beziehen. Diese, so die These, führen zu neuen gesellschaftlichen Lagerbildungen und damit zu einer Restrukturierung des gesellschaftlichen Konfliktraums. Oft werden diese neueren Konfliktthemen als einheitliches Syndrom aufgefasst, das zum klassischen Verteilungskonflikt hinzutritt, quer zu diesem liegt und ihn hinsichtlich der Heftigkeit der Auseinandersetzung überlagert (und schließlich auch das Parteiensystem vor neue Herausforderungen stellt). Oft wird sogar die Diagnose vertreten, dass sich eine neue Lagerbildung – beispielsweise zwischen den Kosmopoliten und den Kommunitaristen oder den Linksliberalen und den Traditionalistisch-Konservativen – ergeben würde, welche die Gesellschaft polarisieren könnte. Zudem wird angenommen, dass gesellschaftliche Statusgruppen polarisierte und invertierte Positionen in diesen Konflikten einnehmen: Während die unteren Statuslagen Umverteilung stark befürworten und eher ablehnend bei Fragen der Anerkennung auftreten, ist es bei den oberen Statuslagen umgekehrt.
In einer Reihe von eigenen Arbeiten (Mau et. al. 2020, Lux et al. 2021) konnten wir zeigen, dass wichtige Aspekte dieser Diagnose empirisch revisionsbedürftig sind. So scheint es sich bei den neueren Ungleichheitsthemen nicht um ein einheitliches Einstellungssyndrom zu handeln, sondern um eigenständige Dimensionen, die jeweils für sich genommen untersucht werden müssen. Wir finden in unseren Analysen distinkte Einstellungen zu vier Typen von Ungleichheiten, die sich folgendermaßen charakterisieren lassen (die nachfolgenden aus Lux et al. 2021 übernommen Definitionen orientieren sich am konzeptionellen Zuschnitt aus Mau et al. 2020):
- Oben-Unten-Ungleichheiten: Hierbei handelt es sich um die sozio-ökonomische Dimension, die auf der traditionellen Unterscheidung zwischen Kapital und Arbeit aufsitzt und anhand von Einstellungen zu ökonomischer Ungleichheit und staatlicher Redistribution abgebildet wird.
- Innen-Außen-Ungleichheit erfasst den „Kampf über Grenzen“ (Zürn 2020: 165) im Hinblick auf Fragen der Migration. Es geht beispielsweise um territorialen Zugang und Inklusion in soziale Sicherungssysteme, etwa die Frage, ob neue Gruppen hinzukommen und mitgliedschaftliche Rechte einfordern dürfen, oder um die Frage, ob Migration als Bereicherung empfunden oder abgelehnt wird.
- Wir-Sie-Ungleichheiten drehen sich um die Anerkennung und rechtliche Gleichstellung von nicht-heteronormativen Lebensformen, diversen Identitäten und Minoritäten, also Aspekte, die oft unter dem analytisch ungenauen und stumpfen Begriff der „Identitätspolitik“ versammelt werden. Hier geht es um Diskriminierungserfahrungen, Anerkennungsbestrebungen und Autonomieansprüche sozialer Gruppen, die in einer Gesellschaft leben (das unterscheidet sie zumindest analytisch von den Innen-Außen-Ungleichheiten).
- Heute-Morgen-Ungleichheiten: Dies ist das Feld von Ökologie und Nachhaltigkeit, das zugleich ein Feld der Ungleichheit ist, weil es sowohl ungleich verteilte Umweltrisiken, die Ressourcenfrage wie auch das Verhältnis der Generationen berührt.
Für diese Ungleichheitsfelder finden wir zudem unterschiedliche Grade der einstellungsmäßigen Polarisierung: starke Polarisierungen bei Fragen des territorialen Zugangs, jedoch nur mäßige bis geringe Polarisierung bzw. Einstellungsdifferenzen bei Fragen der Umverteilung, der Anerkennung sexueller Diversität und der ökologischen Nachhaltigkeit. Dies gilt nicht nur für die Bevölkerung generell, sondern auch für die Positionierung der gesellschaftlichen Statusgruppen.
Die Probleme der bisherigen Forschung liegt darin begründet, dass Einstellungen zu den unterschiedlichen Konfliktthemen häufig nur quantitativ und über eine geringe Anzahl von Items untersucht werden. Durch die sekundäranalytische Ausrichtung der meisten Forschungsarbeiten kann zudem der konkrete Inhalt dieser Items selten vom jeweiligen Forscher mitbestimmt werden. Durch diesen Zuschnitt geraten wichtige Aspekte aus dem Blick, die in unserem Projekt explizit und systematisch berücksichtig werden sollen:
Erstens können die Konfliktthemen nicht in ihrer vollen Breite (und Tiefe) analysiert werden. Bislang können die einzelnen Themen und Sachbereiche nur mit wenigen Items abgebildet werden, so dass unser Ziel ist, mit umfassenderen Itembatterien eine bessere Deskription der „Einstellungslandschaft“ zu leisten und diese sozialstrukturell zu differenzieren. Dieser Zugang soll helfen, zunächst einmal eine deutlich verbesserte Deskription der Lage zu erarbeiten, in deren Lichte dann auch die populären Spaltungsthesen neu diskutiert werden können.
Zweitens unternehmen wir – damit im Zusammenhang stehend – den Versuch, systematisch zwischen allgemeinen Prinzipien oder Themen und spezifischen Politisierungen zu unterscheiden, an denen sich Gesellschaften im Modus des Konflikts abarbeiten und die auch Erregungen und Leidenschaften innerhalb der Bevölkerung nach sich ziehen. Es wäre wichtig zu wissen, welche konkreten Aspekte eines Themas besonders konfliktreich sind und welche nicht. Im Bereich der Einstellungen zu ökonomischer Ungleichheit könnte man bspw. annehmen, dass es zwar einen generellen Konsens gibt, dass exzessive Ungleichheiten schlecht für die Gesellschaft sind, Dissens könnte allerdings bei der Frage auftauchen, ob bspw. Erbschaften besteuert werden sollten. Analog könnte beim Anerkennungsthema weitgehend Einigkeit darüber bestehen, dass Homosexuelle und Transgender-Personen als normal anerkannt werden sollten, während die Meinungen zu diesbezüglichen inklusiven Sprachregelungen auseinander gehen. Die Studie soll klären, ob ein bestimmtes Thema "in voller Breite" polarisiert ist oder nur in sehr spezifischen Hinsichten oder möglicherweise gar nicht. Bislang gibt es entsprechende Befunde allenfalls zu einzelnen Konfliktthemen, keinesfalls aber im Sinne einer von uns anvisierten umfassenden Kartographie der Konfliktfelder, bei der die gesellschaftlichen Triggerpunkte zum Vorschein kommen. Unter Triggerpunkten verstehen wir jene gesellschaftlich neuralgischen Issues an denen die Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissenz, ja sogar Gegnerschaft umschlagen können. Wir nehmen an, dass diese Triggerpunkte der Gesellschaft nicht dort liegen, wo allgemeine Gleichheits- oder Teilhabevorstellungen artikuliert werden, sondern sehr spezifische Interessen oder Kollektivansprüche.
Drittens wollen wir im Zusammenhang mit den Triggerpunkten analysieren, auf welche Deutungen, Alltagskosmologien und Rechtfertigungen sie zurückzuführen sind. Welches ist die sozialmoralische Unterstruktur von „inflammatorischen Themen“? Welche Gründe, Intuitionen, Affekte oder Vorverständnisse werden angesprochen. Spezifische „spasmodische“ gesellschaftliche Reaktionen bei einzelnen Themen, so eine zu prüfende Hypothese, könnten dann wahrscheinlich werden, wenn moralische Intuitionen oder Repertoires (im Sinne von moralisch plausiblen und tief eingeprägten Alltagsdeutungen) berührt werden. Wir wollen zu den einzelnen Issues rekonstruieren, welche das sind und wie sie sozialstrukturell lokalisierbar sind bzw. welche Wertecluster jeweils dahinterliegen. Konzeptionell schließen wir dabei an Arbeiten zur Moralökonomie (Thompson 1971, Kohli 1987; Svallfors 2006, Mau 2003) sowie zu kulturellen und moralischen Repertoires (Lamont et al. 2016; Heuer et al. 2020) an. Ein zweite zu prüfende These könnte lauten, dass Auseinandersetzungen vor allem dann hochkochen, wenn in der Debatte Forderungen auftauchen, welche die habituellen Kontinuitäten und Selbstverständlichkeiten der Beteiligten herausfordern, sei es in kognitiver Hinsicht (es werde neue Sichtweisen auf die Welt eingefordert), sei es in affektiver Hinsicht (es werden – im Sinn von Gefühlsregeln [Hochschild 2016] – bestimmte [Mit-]Gefühle eingefordert oder es wird „Diversitätsstress“ erzeugt), sei es in einer pragmatischer Hinsicht (es werden neue Formen des Sprechens eingefordert).
Viertens gerät mit dem Fokus auf die individuellen Einstellungen aus dem Blick, inwiefern Befragte die Gesellschaft selbst als polarisierte Gesellschaft wahrnehmen und bei welchen Themen diese Polarisierung verortet wird bzw. welche Themen als wenig polarisiert angesehen werden. Es wäre durchaus möglich, dass ein Thema einstellungsmäßig wenig polarisiert ist, aber die Akteure dennoch eine diesbezügliche Polarisierung der Gesellschaft wahrnehmen. Das wäre beispielsweise dann der Fall, wenn sich der diskursive Raum als Frontstellung der Meinungslager darstellen würde, der aber keine empirische Einstellungspolarisierung in der Bevölkerung entspricht. Die erregten öffentlichen Debatten bezögen sich dann nur auf imaginierte Meinungslager in der Bevölkerung, nicht auf tatsächlich vorhandene, was den konfliktären Charakter überkonturieren könnte. Solche Polarisierungsfiktionen könnten allerdings zukünftige reale Polarisierungen antreiben und legen andere politische Interventionsmittel nahe als reale und umfassende Konflikte. Ob und wo Polarisierungen wahrgenommen werden, ist gegenwärtig aber eine völlig offene Frage.
Fünftens, bleibt unklar, welche Relevanz die entsprechenden Themen in den subjektiven Weltsichten und -deutungen der Menschen besitzen. Wenn Einstellungen in standardisierten Befragungen erhoben (und quantitativ analysiert) werden, erfährt man in der Regel wenig darüber, wie bedeutsam ein bestimmtes Konfliktthema für die einzelne Person ist, warum sie eine bestimmte Einstellung vertritt und wie diese Position begründet wird. Im Extremfall könnte die Meinung zu einem für die Befragungsperson bislang irrelevanten Thema durch den standardisierten Fragestimulus erst "erzeugt" werden. Eine qualitative Perspektive ist deutlich besser geeignet, die Bedeutung einzelner Themen vor dem Hintergrund des individuellen Relevanzhorizontes abzubilden. Sie kann zudem auch die kulturellen Repertoires einfangen, mit denen bestimmte Relevanzen und Positionen begründet werden. Auch hierzu gibt es bislang wenig gesicherte Erkenntnisse.
Das Forschungsprojekt soll einen Beitrag liefern, die mit diesen Problemen verbundenen Forschungslücken zu schließen. Konkret sollen für den deutschen Fall in einer Mixed-Methods-Perspektive und unter der Anwendung des Konzeptes der vier Ungleichheitsfelder folgende Fragen beantwortet werden:
Struktur der Einstellungen und Triggerpunkte: Welche Konfliktthemen sind gegenwärtig polarisiert und welche sind nicht polarisiert? Welche Unterthemen innerhalb der jeweiligen Konfliktthemen sind polarisiert und welche sind nicht polarisiert? Was sind mögliche gesellschaftliche Triggerpunkte innerhalb der jeweiligen Themen? Welche sozialstrukturellen Differenzierungen lassen sich auffinden?
Wahrnehmung der Konflikte: Welche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stehen aus Sicht der Akteure im Vordergrund, welche werden als wenig bedeutsam wahrgenommen und welche kommen nicht vor? Wie wird die wahrgenommene unterschiedliche Intensität der Konflikte beurteilt?
Salienz und Selbstpositionierung: Kommen die gegenwärtig geführten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den subjektiven Weltsichten der Menschen überhaupt vor? Wo verorten sich die Akteure in diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen?
Moralische Repertoires: Mit welchen Argumenten werden die eingenommenen Positionen begründet? Mit welchen Kategorien und Argumenten werden die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Auseinandersetzungen gedeutet und bewertet? Welche moralischen Repertoires werden genutzt, um die eigenen Positionen zu verteidigen? Gibt es typische Begründungsfiguren?
Literatur
Heuer, Jan-Ocko; Lux, Thomas; Mau, Steffen & Zimmermann, Katharina (2020). Legitimizing Inequality. The Moral Repertoires of Meritocracy in Four Countries. Comparative Sociology, 19(4-5), 542-584.
Hochschild, Arlie Russell (2017). Fremd in ihrem Land: eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Campus.
Kohli, Martin. (1987). Retirement and the Moral Economy: An Historical Interpretation of the German Case. Journal of Aging Studies, 1(2), 125–144.
Lamont, Michèle; Silva, Graziella Moraes; Welburn, Jessica S.; Guetzkow, Joshua; Mizrachi, Nissim; Herzog, Hanna and Reis, Elisa. 2016. Getting respect: Responding to stigma and discrimination in the United States, Brazil, and Israel. Princeton: Princeton University Press.
Lux, Thomas; Mau, Steffen; Jacobi, Aljoscha (2021). Neue Ungleichheitsfragen, neue Cleavages? Ein internationaler Vergleich der Einstellungen in vier Ungleichheitsfeldern. Berliner Journal für Soziologie 32, 173-212.
Mau, Steffen. (2003). The Moral Economy of Welfare States: Britain and Germany Compared. London: Routledge.
Mau, Steffen; Lux, Thomas; Gülzau, Fabian (2020). Die drei Arenen der neuen Ungleichheitskonflikte. Eine sozialstrukturelle Positionsbestimmung der Einstellungen zu Umverteilung, Migration und sexueller Diversität. Berliner Journal für Soziologie 30, 317-346.
Svallfors, Stefan. (2006). The Moral Economy of Class: Class and Attitudes in Comparative Perspective. Stanford: University Press.
Thompson, Edward P. (1971). The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century. Past and Present, 50(1), 76–136.
Zürn, Michael (2020). Zurück zur Sozialistischen Internationale? Replik auf Carsten Nickel, Floris Biskamp und Michael Hartmann. Leviathan, 48(2), 161-175.
Projektpublikationen
- Mau, Steffen; Lux, Thomas; Westheuser, Linus (2023). Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: edition suhrkamp.
- „Das Politische Buch“ 2024, Friedrich-Ebert-Stiftung
- Sachbuchbestenliste DLF Kultur/ZDF/Die ZEIT November 2023 Platz 2
- Mau, Steffen; Lux, Thomas; Heide, Julian (2024). Ost- und Westdeutsche für immer? Zu Wahrnehmungen von Unterschieden und Konflikten zwischen Ost- und Westdeutschen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 76, 1-23.