Forschungsprofil
Die Forschung am Lehrbereich lässt sich als überwiegend theoretische Reflexionen der politischen Implikationen heterogener Gesellschaften umreißen, und zwar national wie transnational. Derzeit ist sie auf drei thematische Schwerpunkte konzentriert:
Jenseits des methodologischen Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Sozialwissenschaften und der Gesellschaftstheorie
Die Forschung im Feld der Sozialwissenschaften einschließlich der Gesellschaftstheorie war über lange Zeit von methodologischem Nationalismus sowie von methodologischem Eurozentrismus geprägt. Der Nationalstaat wurde als nicht weiter zu hinterfragender Kontext, die europäische Geschichte und europäische Erfahrungen und Selbstverständnisse als nicht weiter zu hinterfragende konzeptuelle Rahmung der Forschung vorausgesetzt. Seit einigen Jahren werden diese vormaligen Selbstverständlichkeiten immer häufiger in Frage gestellt. Nicht zuletzt im Feld der Politischen Theorie und Sozialtheorie nimmt das Bewusstsein zu, dass Reflexionen über eine globalisierte Welt auch eine „Globalisierung“ wissenschaftlicher Herangehensweisen erfordern. Wie eine solche „Globalisierung“ der Theoriearbeit aussehen sollte, bis zu welchem Grad ein Abschied vom methodologischen Nationalismus und Eurozentrismus sinnvoll erscheint und auf welche Weise er zu bewerkstelligen sein könnte, ist dabei freilich umstritten. Bislang zeichnen sich vor allem drei unterschiedliche Varianten ab.
Die erste Variante firmiert unter dem Begriff der „Internationalen Politischen Theorie“. Hierzu zählen in der Praktischen Philosophie, der Politischen Theorie und Sozialtheorie sowie in der politikwissenschaftlichen Subdisziplin der Internationalen Beziehungen angesiedelte Arbeiten in Forschungsfeldern wie der globalen Gerechtigkeit, dem Kosmopolitismus, der globalen Ungleichheit oder der transnationalen Demokratie und Governance; das einende Merkmal dieser Forschung besteht darin, über den Nationalstaat als Referenzgröße hinauszugehen und alternativ entweder größere, etwa kontinentale (Stichwort: EU) Einheiten vorauszusetzen, oder aber tatsächlich global, d.h. alle Menschen, Staaten etc. umfassend zu denken. Das erste deutschsprachige Handbuch zum Thema erschien 2015 im Metzler Verlag; aus dem Lehrbereich wurde zu diesem Band ein Beitrag mit dem Titel „Transnationalismus, Geschlecht und Intersektionalität: Bausteine einer Feministischen Internationalen Politischen Theorie” beigesteuert.
Für die zweite Variante steht in der Soziologie zumeist der Begriff der „Multiplen Modernen“ (multiple modernities), in der Philosophie jener der „Interkulturellen Philosophie“ und in der Politischen Theorie jener der „Komparativen Politischen Theorie“. Hier wird, anders als im Feld der „Internationalen Politischen Theorie“, eher der methodologische Eurozentrismus als der methodologische Nationalismus zu überwinden gesucht: und zwar indem der analytische Blick auf außereuropäische Kontexte, Denktraditionen und Texte gerichtet wird, die entweder für sich interpretiert werden (was in der politischen und der soziologischen Theorie eine deutliche Erweiterung des Kanons darstellt), oder aber vergleichend mit europäischen Denktraditionen und Texten analysiert werden. Diese Variante erfährt derzeit eine zunehmende universitäre Institutionalisierung. Im deutschen Sprachraum erschien das erste Lehrbuch zu diesem Thema, die „Einführung in die transkulturelle Politische Theorie“, 2015 beim VS-Verlag. Der Lehrbereich ist in diesem Band mit einem methodologischen Beitrag vertreten, in dem ich relativierende gegen historisierende Interpretationsstrategien diskutiere („Jenseits des politiktheoretischen Eurozentrismus: Strategien einer Dekolonisierung”).
Der Schwerpunkt der Forschung am Lehrbereich konzentriert sich dennoch auf eine dritte Variante einer „Globalisierung“ der Theorie: jene einer postkolonialen Politischen Theorie und Sozialtheorie. Sie integriert Bemühungen, sowohl dem methodologischen Nationalismus als auch dem methodologischen Eurozentrismus kritisch zu begegnen und entsprechende theoretische und methodologische Alternativen aufzuzeigen. Dabei vereint sie drei Grundanliegen: erstens eine historisierende, die europäische Kolonialgeschichte einschließlich kolonialer und imperialer Spätfolgen und Re-Aktualisierungen einbeziehende Vorgehensweise, zweitens eine Berücksichtigung globaler Verflechtungen und Wechselwirkungen und drittens eine kritische Auseinandersetzungen mit globalen Machtmechanismen und -effekten, und zwar sowohl auf diskursiver als auch auf materieller Ebene. Die Forschung in diesem Feld steht derzeit noch am Anfang.
Auf diesem Gebiet wurden bereits zwei Monographien (Feminismus, Entwicklungs-zusammenarbeit und Postkoloniale Kritik. Eine Analyse von Grundkonzepten des Gender-and-Development Ansatzes. Hamburg 1999: LIT; Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg 2012: Junius) sowie diverse Aufsätze (siehe Liste der Veröffentlichungen) vorgelegt. Im Juni 2011 hat der Lehrbereich mit Kolleginnen aus Kulturwissenschaft und Geographie (Claudia Bruns und Julia Lossau, damals beide HU Berlin) ferner eine große Konferenz zum Thema „Postkoloniale Gesellschaftswissenschaften. Eine Zwischenbilanz“ veranstaltet. Im Juli 2015 folgte ein aus Mitteln des Zukunftskonzepts der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern finanzierter internationaler Workshop zum Thema „Beyond Methodological Eurocentrism: Postcolonial Perspectives for Political and Social Theory“ (konzipiert in Kooperation mit James Ingram, Kanada und Eduardo Mendieta, USA), der als Auftakt eines wandernden Workshopzyklus angelegt ist.
Im Kontext der postkolonialen Gesellschaftstheorie sind außerdem Forschungsaufenthalte als Fellow des Forschungsverbundes desiguALdades.net (International Research Network on Interdependent Inequalities in Latin America) im Wintersemester 2012/13 an der Freien Universität Berlin (zum Thema „Global Differences, Local Effects: Tracing the Socioeconomic and the Cultural in Latin American Postcolonial Studies”) sowie als Visiting Research Fellow am Center for Postcolonial Studies des Goldsmiths, University of London, im Wintersemester 2014/15 zu nennen. Während dieser Zeit sind unterschiedliche Einzelaufsätze (siehe Liste der Veröffentlichungen) entstanden, die bis Ende 2016 in erweiteter Fassung in eine Monographie mit dem Arbeitstitel „Nach dem Eurozentrismus: Staat, Diversität, Demokratie“ zusammenfließen sollen.
Ferner wurde im Juli 2015 von der DFG ein gemeinsam mit Franziska Dübgen (Kassel) entwickeltes Forschungsprojekt zum Thema „Diversität, Macht und Gerechtigkeit. Transkulturelle Perspektiven“ bewilligt, in dessen Rahmen u.a. je eine Promotionsstelle in Berlin und Kassel eingerichtet werden soll. Inhaltlich geht es bei diesem Projekt, das postkoloniale und komparative Zugänge vereint, um Folgendes: Theorien der Gerechtigkeit konstruktivistischer Spielart sind zunehmend transnational orientiert und beanspruchen damit normative Geltung für Menschen unabhängig von ihrem soziokulturellen und geopolitischen Standort. Dennoch ist die wissenschaftliche Debatte über Gerechtigkeit bis dato weitgehend von europäischen und angloamerikanischen Autorinnen und Autoren dominiert. Der hermeneutische Erfahrungshorizont verbleibt dabei relativ begrenzt; und zwar auf metropolitane Räume säkularer, moderner Industrienationen. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel dieses Forschungsvorhabens, die normative Debatte über Gerechtigkeit um alternative intellektuelle Traditionen zu erweitern und damit auf die Diversität transnationaler Unrechtserfahrungen zu reagieren. Das Vorhaben konzentriert sich auf Gerechtigkeitskonzeptionen aus postkolonialen Kontexten im globalen Süden, die bisher kaum in der deutschsprachigen Diskussion rezipiert wurden: auf den südafrikanischen Diskurs über Ubuntu (Berlin) und auf die arabisch-islamische Diskussion über Gerechtigkeit im Maghreb (Kassel). Das Forschungsprojekt operiert dabei im engen Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von Universitäten in Südafrika, Tunesien und Marokko.
Feministische Theorie und Intersektionalität
Die feministische Theorie stellt sich als äußerst dynamisches Forschungsfeld dar; derzeit ist sie durch einen „intersektionalen Turn“ geprägt. Der Begriff der Intersektionalität steht dabei für das Zusammendenken verschiedener Formen von Ungleichheit; potentiell verschiebt sich damit die Geschlechterforschung zur intersektionalen Diversitätsforschung. Dies wiederum hat weitreichende politische und methodologische Implikationen, die wiederum die theoretische Reflexion herausfordern.
In diesem Bereich entstehen aktuell Aufsätze, die Fragen der Macht und der Repräsentationsmodi von Diversität im Kontext feministischer Ansätze thematisieren.
Aber bereits in den vergangenen Jahren war der Lehrbereich auf diesem Gebiet aktiv. In den Jahren 2009 und 2010 fand eine gemeinsam mit Kolleginnen von der Technischen Universität Berlin (Sabine Hark und Hanna Meißner) organisierte Workshop-Reihe zur Intersektionalitätstheorie statt, 2012 eine in Kooperation mit den damaligen Ko-Sprecherinnen des DVPW-Arbeitskreises „Politik und Geschlecht“ veranstaltete internationale Konferenz zum Thema „Feministische Kritik und Widerstand“ sowie eine gemeinsam mit Kolleginnen von der Humboldt-Universität zu Berlin (Sophia Ermert, Gabriele Jähnert, Kirstin Mertschlitsch, Mari Mikkola und Eva von Redecker) veranstaltete internationale Konferenz über „Kollektivität nach der Subjektkritik“.
Neben diversen Einzelaufsätzen (siehe Liste der Veröffentlichungen) erschien 2011 der gemeinsam mit Beate Binder, Gabriele Jähnert, Eveline Kilian und Hildegard Maria Nickel herausgegebene Sammelband "Travelling Gender Studies. Grenzüberschreitende Wissens- und Institutionentransfers" im Verlag Westfälisches Dampfboot. Der Tagungsband zur Konferenz „Kritik und Widerstand“, der gemeinsam mit Brigitte Bargetz, Andrea Fleschenberg, Regina Kreide und Gundula Ludwig herausgegebene Sammelband „Kritik und Widerstand. Feministische Praktiken in androzentrischen Zeiten“ erschien im Herbst 2015 im Verlag Barbara Budrich.
Macht, Demokratie und das Politische
Quer durch die Sozialwissenschaften werden seit einigen Jahren (Akzeptanz-) Probleme der etablierten parlamentarischen Demokratie sowie Formen des Politischen jenseits des Staates bzw. in kritischer Auseinandersetzung mit dem Staat diskutiert. 2010 hat der Lehrbereich zu diesem Thema gemeinsam mit Klaus Schlichte und Daria Isachenko (damals beide: Magdeburg) eine interdisziplinäre und internationale Konferenz organisiert, die den Titel „Capturing the Political. How to Analyse Power beyond State Politics“ trug. Im Herbst 2015 fand die gemeinsam mit Andreas Fleschenberg konzipierte Sommerschule „Democracy, the Political and Social Movements in Europe and South Asia: An Intercontextual Dialogue“ statt, die Lehrende und Studierende aus Berlin, Islamabad und Peshawar für eine Woche an der Quaid-i-Azam University in Islamabad zusammengeführt hat und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Humboldt-Universität zu Berlin finanziert wurde. Die Sommerschule wurde durch gemeinsam konzipierte Lehrveranstaltungen in Berlin und Islamabad vorbereitet und konnte auf diese Weise Lehre und wissenschaftlichen Austausch integrieren. In den thematischen Schwerpunkt „Macht, Demokratie und das Politische“ fallen ferner in Aufsatzform publizierte Arbeiten zu globaler Gouvernementalität und zur Demokratietheorie (siehe Liste der Veröffentlichungen).